Markus Orths

Die Würde des Lügens

„Die Wahrheit ist: Ich habe gelogen“, lautet ein typischer Satz Oscar Wildes, und es ist nicht verwunderlich, dass Oscar Wilde ganz oben auf der Liste der von Joachim Zelter geschätzten Autoren steht. Das Demontieren der Kategorien wahr und falsch, das Spiel mit Fiktion und Antifiktion: dies ist die Würze des Romans von Joachim Zelter mit dem Titel Die Würde des Lügens.

Der analphabetische Ich-Erzähler ist Erzähler im wahrsten Sinne des Wortes: Er kann weder schreiben noch lesen und spricht seinen Lebens(lügen)bericht auf Band. Schon als kleines Kind lernt er, dass eine Lüge oft angenehmere Wirkung haben kann als die Wahrheit. Seine Großmutter, einzige „Erzieherin“ des jungen Helden, sagt ihm zu Beginn des Romans: Wenn er sich beim Wurstkaufen mit ihrem Namen vorstelle, werde er bevorzugt behandelt. Dies geschieht jedoch nicht, und erst als der Junge seine darüber enttäuschte und wütende Großmutter zu belügen beginnt, kann er sie zufriedenstellen. Seine Lügengeschichten beginnen klein und harmlos, steigern sich aber von Einkauf zu Einkauf, und je größer die aufgetischten Lügen werden, um so zufriedener wird die Großmutter. So erfindet der Erzähler zunächst nur, dass man Grüße an die Großmutter ausgerichtet habe. Dann, sagt er, habe man ihn vor allen anderen Kunden behandelt, man habe ihm das beste Fleisch gegeben, man habe ihm, als kein gutes Fleisch mehr da war, das eigene aus der Pfanne geholt, man habe ihm einen Stuhl gebracht, ein Sofa, ihm die Schuhe geputzt, ihn mit einem Auto nach Hause gebracht, eine Kuh für ihn gemolken, ein Lamm geschlachtet. „Nun ist es aber genug!“, sagt die Großmutter und signalisiert damit gleich zu Beginn, dass sie den kleinen Lügner zwar durchschaut, aber dessen Lügen für das eigene Wohlbefinden braucht, eine Tatsache, die Zelter im parodistischen Nachwort des Romans noch einmal in überraschender Weise aufgreift.

Ziemlich bald belügt der „Sprechsteller“, wie sich der Erzähler als nicht-schreibender Schriftsteller bezeichnet, nicht mehr nur die Großmutter, sondern den Leser. Dies ist jedoch so geschickt eingefädelt, dass man dem Erzähler gerne in seinen abstrusen Beschreibungen folgt. Die teilweise himmelschreiend absurden Szenen sind so greifbar, so plastisch und so lustig dargestellt, dass sie vor dem inneren Auge des Lesers entstehen und es überhaupt nicht stört, dass man weiß: Alles ist erstunken und erlogen. Hier kommt das Grundprinzip der Literatur zu sich selbst: Etwas Unwahres so zu erzählen, dass der Leser es glaubt, es glauben will, es sich vorstellen kann. Und es bedarf schon einer hohen Kunstfertigkeit, um dem Leser beispielsweise eine solche Szene zu verkaufen: Der Ich-Sprecher simuliert eine Blindheit, um dem Erlernen des Schreibens und Sprechens zu entgehen. Zugleich aber wird er als sechsjähriger, kindsköpfiger Analphabet vom Nachbarn Martin Heidegger in Philosophie unterrichtet. So sitzt er eines Tages mit einer überdimensionalen dicken Brille und Blindenstock beim Nachbarn im Wohnzimmer, es findet gerade ein Doktorandenkolloquium statt, („nie habe ich so gut schlafen können“), er erwacht plötzlich, um intuitiv etwas von „Lichtung“ zu heideggern, die nur ein Blinder vollkommen durchdringen könne, woraufhin er – sechs Jahre alt – von Heidegger als Doktorand angenommen wird. Dies ist eine typische Zelterszene, die ihre Kraft mehr noch aus der anschaulichen Dynamik des Ausmalens und Erzählens gewinnt als aus dem satirischen Unterton.

Im zweiten Teil des Buches gelingt Zelter der eigentliche Kunstgriff, der aus dem Buch viel mehr macht als eine Ansammlung von herrlichen Grotesken. War es im ersten Teil noch so, dass der Ich-Erzähler seine Lügengeschichten als wahre Begebenheiten verkauft, so werden nun, im zweiten Teil, nachweislich wirklich Geschehenes zu Erfindungen des Ich-Sprechers. Das geht so: Die Großmutter des Erzählers hört liebend gern Radio. Um aber zu verhindern, dass draußen in der Welt etwas passiert, das seiner Großmutter nicht gefällt und über das sie sich ärgern könnte, beginnt ihr Enkel im Keller Tonbänder zu besprechen, die er statt des Liveprogramms im Radio abspielt, sodass er das Geschehen der Welt mehr und mehr zu lenken beginnt. Der Schriftsteller-Gott schlägt zu. Komischerweise decken sich nun die erfundenen Berichte des Lügners exakt mit denen der uns bekannten, verbürgten „Realität“. Durch die Art der Beschreibung und durch den nun ein neues Gewicht gewinnenden ersten Teil erhält der Bericht über das tatsächlich Geschehene eine solch unglaubwürdige Note, dass man oft zusammen mit dem Erzähler geneigt ist zu denken: Besser und dramaturgisch geschickter hätte „die Welt“ nicht erfunden werden können. Nun wählt Zelter für seine Neu-Erfindung der Welt geschickterweise Ereignisse, die eine dramatische Grundstruktur haben, wie z.B. Sportevents (Fußballweltmeisterschaft 1974, der erste Wimbledonsieg Boris Beckers) oder politische Ereignisse (das Misstrauensvotum, die Ära Kohl, die Wiedervereinigung).

In dieser durch und durch überzeugenden Konstruktion des Buches dringt damit ein ästhetisches Prinzip Oscar Wildes durch: Nicht die Kunst orientiert sich an der Wirklichkeit, nein, die Wirklichkeit ahmt die Kunst nach. Die Welt als Fiktion, die von uns immer neu erfunden wird: nicht erst im Zeitalter des Konstruktivismus ein Ur-Thema der Literatur, von Zelter neu und sprühend inszeniert, entstaubt und mit viel Witz erzählt. Da sieht man auch gerne darüber hinweg, dass der Kunstgriff mit dem Radio an Jurek Beckers Jakob, der Lügner erinnert.

Noch ein Wort zu Zelters Sprache: Spricht man sonst bei rhythmisch ausgefeilter Prosa gerne von Sog oder Strudel, so trifft für den Zelterschen Duktus wohl eher das Wort „Lawine“ zu, welche als Schneeball beginnt und den Leser schließlich, immer größer werdend, mit sich reißt. Diese Lawinen rollen aber in Zelters Büchern ständig und immer wieder neu, im Kleinen beginnend, stets anwachsend, sie lassen in wenigen Zwischenräumen nur kurz Zeit zum Verschnaufen. Aufgrund dieser immer wieder neu ansetzenden Szenen kann man getrost auch von einer episodischen Struktur sprechen, welche den Roman durchzieht und könnte Die Würde des Lügens somit in die lange, mit Cervantes beginnende und durch Grass revolutionierte Tradition des Schelmenromans einordnen.

Joachim Zelter
Die Würde des Lügens
Ithaka Verlag 2000
Neuauflage Klöpfer und Meyer 2013